Texte

GUIDO WEGGENMANN

Foto: Leonie Felle

 

 

Auf Palette – Der Spanngurt mit dem Kronjuwel

 

Eine Europoolpalette, die bereits in die Jahre gekommen war und von der Sonne und dem Regen ein ungehobeltes, gegerbtes Aussehen erhalten hatte, machte die Bekanntschaft mit einem Spanngurt, der, ebenfalls vom Altern nicht verschont, sein leuchtendes Orange eingebüßt hatte.

Zwar waren beide noch funktionstüchtig und stabil, der Spanngurt konnte noch gewaltige, schwere Eisenwaren festzurren und die Palette war noch nicht gebrochen, so dass sie sich sicher in engen Laderäumen rangieren ließ und auch dem Hubwagen treue Dienste tat, doch beide fürchteten sich vor höherer Gewalt.

Denn sie waren nur gemeine, abgenutzte Transportwerkzeuge und zudem nicht allein auf der Welt. Gesellen ihrer Art gab es allenthalben und die meisten glänzten in strahlender Farbigkeit oder waren von duftigem, frischem Holz.

Die Krone schaute von oben auf die Vielzahl ihre Untertanen herab und observierte aus erhabener Sicht ihre Handlanger. „Diese Palette geht nach New York“ schmetterte die Krone von Gottes Gnaden und reckte ihren Reichsapfel gen Himmel. Eine andere schickte ihr Handlanger nach Paris und wieder eine andere wies die Insignie der Macht nach London. Im nächsten Moment aber bestimmte sie aus Willkür: „Jener Zurrgurt taugt nicht mehr und diese Palette auch nicht“ und ließ diese von den Handlangern wegbringen und entsorgen.

Die verwitterte Europoolpalette und der blassorange Spanngurt waren ohnmächtig vor Angst. Als sie alleine waren, sagte die Europalette leise zum Spanngurt „Wir sollten uns gegen die Willkür im Königreich wehren und uns in der Welt exponieren.“ „Ja, „ bestätigte der alte Spanngurt und sprach lauthals: „Wir demonstrieren der Welt, dass wir noch nicht zum alten Eisen gehören. Wir machen uns unsterblich, indem wir Symbol der Zeit werden und unsere Einzigartigkeit beweisen.“ Die ganze Nacht schmiedeten die beiden Pläne und führten erhitzte Debatten über ihre Zukunft. Am Ende schliefen sie glücklich zusammen ein, denn sie hatten eine Intension.

Im Laufe der Jahrzehnte und auf unzähligen Reisen hatte die Palette allerlei großartige Repräsentanten kennengelernt und tragend unterstützt. Beim Manövrieren der Schausteller hatte sie Erfahrungen mit Schwergewichten gesammelt und stets eine gute Figur gemacht. Auch der Spanngurt hatte sich beim Zurren viel Wissen angeeignet und wusste, wie man die Edlen und Wichtigen anzufassen hatte, ihnen Haltung verleiht und wie man zusammenhält. Außerdem kannten sie alles, was von Kronen und Repräsentanten erzählt wurde, denn beide waren in der Welt herumgekommen.

In einer Nacht, als der Herrscher tief und fest schlief, schlich sich der orange Spanngurt schlangengleich an das Haupt seiner Majestät an, während sich die hölzerne Europoolpalette in der Nähe auf den Boden legte. Da griff der Spanngurt schlagartig einen Bügel der stählernen Bügelkrone und zerrte das überraschte Ding mit einem Ruck auf die hölzerne Europoolpalette, sprang rasch über den Bügelkranz drüber, schlupfte geschwind unter den stabilen Brettern der Gefährtin hindurch, glitt behände in den Metallbügel und spannte die Schlinge fest. Das Herrscherattribut war auf der sich darbietenden Palette fixiert.

Am nächsten Morgen saß die Krone nicht mehr auf ihrem hohen Ross. Sie lag vom Sockel gestürzt und unkomfortabel auf ihrer instabilsten Stelle, unterfüttert von der Europoolpalette. Die Insignie wurde so – auf der Kippe stehend - den anderen Untertanen in unwürdiger Weise zur Schau gestellt. Sie lag schief und reckte den Reichsapfel gedemütigt zur Seite. Endlich einmal konnten die Untertanen von oben herab auf den Giganten hinunterschauen.

Das Volk wusste von der gewaltigen Kraft des Spanngurtes. Doch als Ausdruck des Sieges über die Tyrannei präsentierte er sich lässig gespannt mit locker gebundener auf dem Boden auslaufender Schleppe. Auch die Palette zeigte sich als professionelle Präsentationsfläche und hielt sich diskret zurück.

Die beiden Partner freuten sich; hatten sie doch einen „David“ gemäß Donetello inszeniert oder den von den Liliputanern gefesselten Gulliver auf dem Holzrahmen nachgestellt. Die Untertanen applaudierten dem dinglichen Triumphmotiv. Gemeinsam beschloss das Volk mit den Handlangern die allegorische Installation aus Palette, Spanngurt und Krone nach New York, London und Paris zu verschiffen, um sie stolz aller Welt zu zeigen.

 

© Sabine Idstein Kunsthistorikerin in der Kunsthalle Mainz

Foto: Leonie Felle

 

 

Olga dreht Pirouetten

 

Olga ist ein überlebensgroßes kinetisches Objekt mit ostslawischem Namen, der die Heilige, die Vollkommene und die Gesunde bedeutet. Die Gesunde aus dem Osten zieht ihre Energie aus der Steckdose und ist sie einmal in Schwung gekommen, dann wird sie zum Wirbelwind.

Von ihrer Drehachse aus beginnt die Dame in Blau ihre zuvor als wilde Mähne herabhängenden Moosgummi – Bürstenhaare und die leicht verfilzt wirkenden PE-Borsten in rotierende Bewegung zu bringen. Der neulateinischen Wortbedeutung der Zentrifugalkraft nach fliehen (lat. fugere) die „Haare“ nun vom Mittelpunkt (lat. centrum) aus, wobei sie in ihrer schieren Masse einen an Kleintromben (am Boden stattfindende Wirbelwinde) erinnernden Luftwirbel produzieren.

Guido Weggenmann wertet die gefundene, ausrangierte, abgenutzte Bürste einer Autowaschanlage enorm auf. Er hat die vormalige Seitenwalze, die üblicherweise eingeschäumt und von oben und unten fixiert an verschmutzten Fahrzeugen vorbeigezogen wird, ins Trockene gebracht, aus ihrer Klammer befreit; zur Kunst erklärt und sie dazu auf einem Sockel verankert, der ihr ein Gegengewicht gibt und sie freitragend im Gleichgewicht hält. Mit einem neckischen Hütchen in der weggenmannschen Hausfarbe, einem Extrem-Orange bekrönt. So könnte sie glatt als Hostess oder uniformierte Haushaltskraft des Künstlers durchgehen.

Die gesamte Form der Bürste erinnert ohnehin an den überdimensionierten Staubwedel eines Zimmermädchens. Und daher verwundert es auch nicht, dass sich Weggenmann am „Vier-Farben-System“ der Hygiene orientiert. Danach fristet der rote Lappen das erniedrigende Dasein ausschließlich für WCs, Urinale und Fliesen im umgebenden Bereich eingesetzt zu werden. Gelb ist Bad und Grün dient der Desinfektion. Den blauen Reinigungsobjekten dagegen ist das höchste Niveau vorbehalten: sie pflegen die ohnehin nie sonderlich schmutzige Einrichtung wie Möbel, Heizkörper, Türen etc., eben jenes Interieur, das ein professionelles Ausstellungshaus in erster Linie seinen Gästen zu bieten hat.

Olga das Readymade macht Marcel Duchamp alle Ehre, wie die „Fontäne“ und der „Flaschentrockner“ wurde auch sie vom Feuchtraum in den Ausstellungsraum gebracht, macht aber mehr Wind als das „Fahrradrad“. Auch eine Figur aus Oskar Schlemmers „Triadischem Ballette“ kommt aufgrund der Farbigkeit und reduzierten Form lebhaft in den Sinn.

Sollte also der Ausstellungsraum einmal verlassen und eingestaubt sein, so lohnt es sich, sich an das Sujet Trouvés Olga zu wenden. Auf Knopfdruck steht sie mit dem ganzen Volumen ihres Körpers auf und tanzt Pirouetten, dabei fliegt der Staub und jeder, der sich ihr anzunähern versucht, an die Wand. Dass das Kunstwerk nicht angefasst werden soll, muss dann nicht mehr geäußert werden, sondern ergibt sich von selbst.

 

© Sabine Idstein Kunsthistorikerin in der Kunsthalle Mainz

 

Foto: Leonie Felle

 

 

Neue Ernte – Eine Dystopie

 

Guy Do III hatte den PKW eingetauscht gegen den Zugang zu einem illegalen Stromnetz, um ein letztes Mal die 6 Lebensmittellampen hell und warm erstrahlen zu lassen. Damit offerierte er den letzten 30 Maispflanzen auf dem Hänger die finale Luxmenge, um sie zur endgültigen Photosynthese vor der Ernte anzuregen. Die proklamierte Neue Ernte würde damit zugleich seine allerletzte Ernte im Jahre 2055 werden, denn nach ihrem Einholen wäre eine weitere Lieferung der illegalen Kolben in exklusiver Goldenen Bantam-Demeter-Qualität ausgeschlossen. Kein Fahrzeug würde mehr dafür Sorge tragen, dass Guy Do III ausreichend mobil und flexibel wäre, um den Augen der globalen Kontrolle permanent zu entfliehen, geschweige denn, seine weit entfernten Kunden zu erreichen. Allen Treibstoff hatte er verbraucht, er hatte auch nichts mehr, dass er eintauschen könnte, um an illegalen Strom zu gelangen. Er konnte schlichtweg nicht mehr für das Gedeihen der Pflanzen garantieren, ohne ein Sicherheitsrisiko für sein eigenes Leben einzugehen. Aber wie würde es nun weitergehen? Zuerst stand die Lieferung der Bio-Kolben an, trichterte er sich zuversichtlich ein.

Nach einem unruhigen Schlaf in seinem Unterschlupf, den er 12 Stunden mit seiner Mini-Plantage in Anspruch nehmen durfte, und der ihm im Tausch gegen den PKW gewährt worden war, erlosch schließlich das Licht. Guy Do III zog den Stecker aus der Steckdose und griff nach der Zugöse seines in die Jahre gekommenen PKW-Anhängers, den sein vorausschauender bayrischer Großvater vor fast einem halben Jahrhundert entwickelt hatte. Erstmals wurde das alte Gefährt nun manuell gezogen. Mit voller Körperkraft und konzentriert auf das sensible Austarieren des kippenden Oldtimers, verließ der junge Mann mit seinem beladenen Hänger die Höhle am Fuße des Bergmassivs.

Nun galt es die kostbare Ware der Neuen Ernte ein letztes Mal zu den BKLE (bewussten Konsumenten landwirtschaftlicher Erzeugnisse) zu befördern, die auf das illegale Lebensmittel warteten. Die Nacht war die einzige mögliche Reisezeit, in der er sich Guy Do III nun fortbewegen konnte. Ohne PKW hatte er keine Klimaanlage mehr zur Verfügung und es war tagsüber schlichtweg zu heiß, um sich zu Fuß zu bewegen, noch dazu unter Einsatz von Körperkraft. Zudem waren jetzt noch keine Maschinen auf den Feldern. Bis zum nächsten Arbeitsbeginn der Farmbelegschaft blieb ihm ausreichend Zeit, mit seiner Last ungesehen sein Ziel zu erreichen. Hoffentlich.

Hebend und ziehend zugleich arbeitete sich Guy Do III in dieser sternenklaren Nacht an dem unendlichen Meer aus 3 Meter hohen Maisstauden vorbei.

Während Guy Do III sich mit dem Anhänger abschleppte, schossen ihm Gedanken in den Kopf, wie einst Unkraut aus dem Boden gewachsen war. In der Luft liegendes Methangas verwirrte ihm zusätzlich die Sinne und verwies ihn auf ein Leck in einer nahegelegenen Biogasanlage. Er fürchtete sich. Angst vor den Handlangern der globalen Maisplantagen. Was wäre, wenn sie ihn jetzt erwischen würden. Mit welcher Sanktion wäre zu rechnen? Könnte er den Schaden, den er und seine Ahnen verursacht hatten, klein reden? Er habe den Anhänger am Wegesrand gefunden und wollte ihn gemäß Bürgerpflicht der globalen Maispolizei aushändigen. Er lächelte über diese naive Ausrede. Immerhin hatte er in seiner aussichtslosen Lage noch Galgenhumor. Man würde sofort feststellen, dass er im Untergrund lebte. Es gab überhaupt keine Satellitenortung seiner Person. Seine Identität war der GS (Globale Sicherheit) vollkommen unbekannt; seine Kontakte basierten auf verbalem, akustischem Austausch in live - old style - dank Opa, der im Jahr 2017 eine Grünflächenpatenschaft geschlossen hatte, traf er nun in der 3. Generation jährlich die NVGKs, das Netzwerk urbanes Grün Kempten.

„Wer für Kunst kein Budget hat, der arbeitet im Kulturbetrieb“ hatte Opa Guy Do seine Tätigkeit erklärt. Er hatte aus einem Kunstwerk einen funktionalen Gegenstand erzeugt. „Ich habe das Ready-made wieder umgekehrt“, hatte er triumphierend verkündet und das entspräche auch gleich dem Zeitgeist.

Guy Do III hatte diese Aussage nie verstanden. Kunst stammte aus einer vergangenen Zeit. Sein diesbezügliches Wissen war rudimentär. Er war in einer Zeit der globalen Maiswüste aufgewachsen, aber er verteidigte des Großvaters Erbe.

„Das ist eine wichtige Arbeit für mich“, hatte der Großvater dem kleinen Guy Do III anvertraut und berichtete von damals, „die Bauern werden erpresst und müssen jeden m² mit Mais bepflanzen, obwohl es die Böden zerstört. Das ist alles nur zur Gewinnoptimierung großer Biomasseverwerter; die Erntemaschinen brauchen fast schon so viel Diesel, wie jenes, das am Ende an Biomasse herauskommt. So was muss man einfach mal in einer Arbeit verdauen.“

Nun gut, Opa Guy Do lebte in einer anderen Zeit in der es Bauern und m² in der Landwirtschaft gab. Damals muss es sehr schön gewesen sein, träumte er. „Du erntest, was du säst“, kam ihm in den Sinn. Was hatte der globale Markt gesät, und was würde er demnach ernten? Und welche Rolle spielte er selbst in diesem Szenario? Guy Do III dachte über den Beginn des Jahrhunderts nach. Alles startete mit der Finanzkrise. Der Umbruch in der Landwirtschaft erfolgte kaum merklich mit dem Landgrabbing, einem großen Run auf Ackerland. Spekulanten kauften den konventionellen Bauern, die kleine Landflächen bewirtschafteten, den Boden ab, um nachwachsende Rohstoffe im großen Stil anzubauen. Kleinbetriebe wurden von größeren geschluckt. Der landwirtschaftliche Bodenmarkt wurde verzehrt.

Biogasanlagen schossen wie einst Pilze aus dem Boden. Mais war der Allrounder schlechthin. Die Vielfalt der Fauna und Flora verschwand zugunsten einer Monokultur aus Mais. Mais war nötig als Tierfutter für den chinesischen Fleischmarkt, erträglich als Menschennahrung für die Ärmsten der Welt, dienlich als Rohstoff für die Industrie, nutzbar um Autos anzutreiben oder Strom zu erzeugen. Grüne Energie aus nachwachsenden Rohstoffen war der Start für eine Explosion des Maisanbaus und das entsprechende Geschäft, das Agrarbusiness. Investoren steckten ihr Geld in den Boden. Die ganze Welt wurde mit Mais überzogen. Nur jene, die ihn aßen, starben am Hunger. Das Klima stieg an durch den Ausstoß an CO² und Methangas. Hochindustrialisierte Betriebe entstanden mit entsprechenden Maschinenparks.

Zeitgleich mit der Monokultur in unvorstellbaren Dimensionen wurden kleine Gegeninitiativen, die Miniatur-Landwirtschaftsbetriebe, gegründet. Ein Zwergenaufstand mit samenfesten Traditionsmais Golden-Bantam oder blauem Rio Lucio Mais auf Minifeldern. Es war der schwache Protest gegen den Anbau von Gentechnik-Mais, der bald gescheitert war. Seither wurde auch in der alten Bundesrepublik, Opa Guy Dos Heimat, die erste Anbauzulassung für die Gentechnik-Maissorte zugelassen. Der Widerstand war niedergeschlagen. Die Gentechnik breitete sich aus. Gentechnik und Hybride vernichteten allmählich die gesamte Artenvielfalt. Der Boden erodierte, die Flüsse wurden vergiftet mit Spritzmittel und Dünger. Der Mais schwitzte hochwirksame Giftstoffe. Die Bienen starben oder emigrierten in die Städte. Guy Do III band bei diesem Gedanken seinen Mundschutz fester. Hier auf dem Land war er umgeben von Giftstoffen.

Großer Kritiker und Rebell war Großvater Guy Do gewesen, der sich nicht anpassen wollte und seine Kinder nicht in den Dienst des Genmais stellen wollte. Er war ein Künstler, lebte unter den Landwirten in einer Region namens Allgäu und stellte bereits früh fest, welche Zukunft ihn und die Seinen erwartete. Als Sinnbild der Problematik schuf er, gemäß seiner Profession, eine Skulptur. Das war eine Art dreidimensionale Information aus Gegenständen, mit der man sich an die Öffentlichkeit wandte. Mit ihr setzte er sich für die kleinbäuerliche Gemeinschaft ein. Die Skulptur hieß „die Neue Ernte“ und war exakt jenes Gefährt, das Guy Do III immer noch mit sich trug. Aus dem Kunstwerk war ein illegales Pflanzfeld der Urban Gardening Kultur geworden. Und nun war es soweit. Guy Do III hatte keinen Aussichten mehr und war der letzte Rebell auf dem Schlachtfeld. Wie sollte es nun weitergehen. Die Kolben und den historischen Hänger eintauschen gegen Wasser und verseuchtes Brot?

Vielleicht würden die NVGKs ihm eine Perspektive eröffnen können. Immerhin kannte man sich seit der Kindheit. Ihre Lebensweise war seinem Lebensstil nicht unähnlich, wobei sie die Konsumenten, er einer ihrer Produzenten war. Konnte er sich ihnen anvertrauen?

Die Dämmerung lies nicht mehr lange warten und die Schulter schmerzte Guy Do III erheblich. Wie weit war es denn noch? Offenbar kam er kaum voran. Die Straße war gerade und breit. Rechts und links nichts als Mais. Zumindest änderte sich nichts an dem Landschaftsbild, das sich ihm bot. Es war, so sein Opa, das Bild einer Dystopie. Großvater Guy Do hatte ihn aufgeklärt, dass der Begriff dem Wortsinn nach: aus dem Griechischen „dys“ für schlecht und „tópos“ für Platz oder Stelle zusammengesetzt war. Er hatte dem Enkel erklären wollen, dass die „Neue Ernte“ die schlechte Landschaft, die sie mit Mais umgab, reflektieren sollte. Die neue Ernte sollte ein Extrakt desselben sein. Zu Opas Zeiten gab es eine ungeheure natürliche Vielfalt, die Guy Do III nicht mehr kennengelernt hatte.

3 Stunden später erreichte Guy Do endlich die Wegegabelung. Er hatte sich den Anhänger mittlerweile mit dem Gürtel um die Schultern gebunden und zog schweißgebadet an der „Neuen Ernte“, die ihm brav und in leuchtendem Grün auf den Fuß folgte, so wie er zeit seines Lebens ein kleines Maisfeld in bester Bioqualität im Nacken gehabt hatte. Nun sah er auch endlich die vertrauten Lichter leuchten, die die Wohnsiedlung der NVGKs markierte. Mittlerweile hörte man auch schon die ersten Wildschweine im Feld. Es dämmerte und wurde bald Tag. Fast geschafft.

Er öffnete am Ortseingang die Scheune, die er seit 20 Jahren kannte und bucksierte mit letzter Kraft den Anhänger hinein. Ein kurzes Nickerchen und dann würden seine Kunden hereindrängen, um von der nichtkontaminierten Ware zu pflücken. Frisch von der Staude und ungespritzt. Welcher Luxus. Hunger hatte er auch. Die Energie, die er in den Transport gesteckt hatte, kostete ihn viele Kalorien. Wäre der Mais von Genqualität für die Gewinnung von Ethan oder Methanol, wäre der Energieaufwand viel zu hoch für diese kleine Ernte. Der Aufwand lohnte sich nur in Kombination mit der Illegalität der Ware. Außerdem war dieser Mais wirklich genießbar. Guy Do III war ein Biomaisdealer.

Hier in der Scheune war auch eine Steckdose und so konnte Guy Do auch die Pflanzenlampen einschalten, die mit großem Energieaufwand die Präsentation des Mais‘ auf dem Sockel einer landwirtschaftlichen Ladefläche präsentierte. Die letzte Ausstellung des antiken Landwirtschaftshängers würde demnächst starten. Er besah sich das Werk und realisierte: So war es gedacht. Das war einst Kunst, heute eine illegale Ware.

 

© Sabine Idstein Kunsthistorikerin in der Kunsthalle Mainz